Mit der Kamera durch Paris

Im Oktober 2023 führte meine alljährliche Fotosafari mich wieder einmal nach Paris. Fünf Jahre ist es her, dass ich das letzte mal dort war. Die Kathedrale Notre-Dame, an der mir 2017 noch eine wunderbare Aufnahme gelungen war, ist nach dem schweren Brand nach wie vor eine Baustelle. Damals trat ich von der Kirche auf Rue du Cloître-Notre-Dame, wo zwei Musiker gerade eine kleine Pause machten. Ich habe sie fotografiert, aber weder vom Bildaufbau noch von der Bildaussage war die Aufnahme gelungen. Als ich einen Priester herbeieilen sah, habe ich schnell die Perspektive gewechselt. Nun stimmte alles: Die Linien führen auf das Tor des Parks zu, durch das die Nachmittagssonne auf die Szene fiel. Im Betrachten des Fotos fange ich gleich an, Fragen zu stellen: Hat der Priester gleich Dienst in der Kathedrale zu versehen? Haben die Musiker seinetwillen wieder zu spielen begonnen?

Straßenfotografie ist für mich dann gelungen, wenn sie Geschichten erzählt und die Phantasie anregt

Aus mehreren Gründen ist Paris für mich aller​dings kein leichtes Pflaster. Zu viele Menschen, zu viele Klischees, zu weite Wege. Die ‚Dichte‘ auf den Straßen ist natürlich ein Problem, das in jeder Stadt auftauchen kann. Wo niemand auf der Straße unterwegs ist, geschieht nichts. Wo sich die Menschen drängen, ist es kaum möglich, eine einzelne Szene im Foto festzuhalten. So bemühe ich mich, auf der geschäftigen Avenue des Champs-Élysées ganz langsam zu schlendern, damit ich in den Lücken zwischen den Touristengruppen die Geschichten nicht übersehe.

Ich entdecke einen Mann mit karierter Hose und Bowlerhat, den ich für einen Briten halten würde, wenn er nicht eine Berlin-Tasche trüge (Bild 3). Unweit in einer Seitenstraße steht eine ähnlich auffällig gekleidete Frau (Bild 4); ich frage mich unwillkürlich, ob die beiden vielleicht auf einander warten.

Ein paar Schritte weiter überlegt ein junger Mann offenbar, wann er sich wohl eine der Luxusuhren aus dem Schaufenster leisten kann. Sind es Vater und Sohn, die sich vor dem Laden nebenan niedergelassen haben (Bild 6)? Und haben Sie bemerkt, dass die Schaufensterpuppe ihr Gespräch belauscht?

Wenn ich mir im Herbst eine Woche Zeit nehme für die Straßenfotografie, stört es mich nicht, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein. Ich lege grundsätzlich alle Wege zu Fuß zurück. Aber Paris verlockt mich, zu weite Strecken zu laufen und dabei zu schnell unterwegs zu sein. Dabei weiß ich es eigentlich aus Erfahrung: Es ist ergiebiger einen halben Tag auf einem Platz zu verbringen als in der gleichen Zeit von der Île de la Cité zum Eiffelturm oder zum Montmartre zu laufen.

Im Jardin du Tuileries etwa verbringe ich gern viel Zeit. Es gibt zwar viele Menschen dort – aber ebenso viele Geschichten. Die beiden Mädchen etwa, die sich auf dem Weg durch den Park hin und wieder in bewegungslose Statuen verwandeln. Dann sehe ich, wie die Sonne an einer der Treppen harte Schatten wirft. Ich habe schnell ein Bild im Kopf, das ich gern fotografieren möchte. Allerdings braucht es mehrere Aufnahmen, bis ich das Foto habe, das mir vorschwebt. Manche Passanten biegen zur gegenüberliegenden Treppe ab, andere überqueren den Schatten des Geländers im falschen Winkel. Dann wird meine Geduld belohnt: Eine junge Frau balanciert genau auf dem Handlauf entlang und hat sich freundlicherweise extra einen Rock angezogen, der zum Karomuster des Geländers passt.

Nicht viel anders erging es mir vor dem Eingang einer Parfumerie in der belebten Rue de Rivoli: Mal waren zu viele Personen im Bild, mal nahmen sie den falschen Weg oder trugen kontrastlose Kleidung – bis die Dame mit dem weißen Mantel kam. Das war das Foto, das ich haben wollte.

Was ist Klischee, was ist das originär Französische. Die Frage stellt sich in Paris noch drängender als in anderen Städten. Cafés und Restaurants gehören zweifellos zur französischen Lebensart, ein Karussel ist selbst auf dem Marktplatz vieler kleiner Dörfer zu finden. Am Montmartre stoße ich auf beides. Aber ein Foto ergibt sich erst durch den Mann, der dort vor dem Café sitzt, durch die Frau, die am Carrousel de Saint-Pierre wartet, bis die Tochter ihre Runde beendet hat.

Am anderen Ufer der Seine liegt das Quartier Saint-Germain-des-Prés. Im einstigen Treffpunkt für Philosophen, Literaten und Künstler reihen sich heute vornehme Geschäfte. Die drei Personen mit den drei Hunden vor dem Antiquitätengeschäft verlocken mich ebenso zum Foto wie die Ladenbesitzerin, die im Eingang ihres Feinkostgeschäfts schnell eine Zigarette raucht. Und während der Tabakgeruch zu mir über die Straße zieht, merke ich, dass die beiden Damen mich beim Fotografieren amüsiert beobachten – ein stilles Einverständnis.

An das Quartier Saint-Germain schließt sich der Jardin du Luxembourg an, vielleicht der schönste Park der Stadt. Es würde sich lohnen, nur hier eine Woche zu Fotografieren. Am großen Wasserbecken spielen Kinder mit ausgeliehenen Segelbooten, folgen ihnen eilig dorthin, wo der Wind sie hingetrieben hat. Es braucht einige Versuche, bis ich ein Bild habe, das vom Aufbau und vom Licht so ist, wie ich es haben möchte.

Bei der ganzen Lauferei bin ich dann dankbar, dass das kleine Mädchen so geduldig posiert, bis der stolze Opa und ich unsere Aufnahmen im Kasten haben.

Auch die gestreiften Säulen im Innenhof des Palais Royal Palast locken mich immer wieder. An einem Tag treffe ich dort auf Studierende, die offenbar Zeichnungen von den Arkaden der ehemaligen Einkaufsgalerie anfertigen. Ich bemerke die Streifen auf den Turnschuhen eines Studenten und wähle eine niedrige Perspektive, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

An einem anderen Tag spielen im Hof Kinder, deren Kleidung darauf deutet, dass sie aus den vornehmen Familien der Haupstadt stammen. Aber Kinder sind Kinder und streiten um den Ball. Ich positioniere mich so, dass ich gemeinsam mit den Jungen im Vordergrund der Szene folgen kann und der Blick beim Betrachten des Bildes diagonal zu dem Ball gelenkt wird. Dass dies alles gleichermaßen schnell wie unauffällig geschehen muß, versteht sich von selbst. So eine Szene wartet nicht, bis ich bereit bin.

Wie die gestreiften Säulen von Daniel Buren ist auch Jean-Michel Othoniels “Kiosque des Noctambules” in der Nähe des Palais Royal ein Kunstwerk im öffentlichen Raum. Die silberfarbenen Säulen sind über und über mit Kugeln aus buntem Muranoglas verziert, so dass die Skulptur eigentlich nach einem Farbfoto verlangt. Aber das gibt es in jedem Reiseführer. Mich nteressiert viel mehr die Frau im Pelz, die dort auf der Bank sitzt. Auch hier hebt die schwarz-weiß-Aufnehme hervor, was ich zeigen will: Die Vornehmheit der Frau inmitten dieser silbern schimmernden Kugeln.

Wer im Herbst auf Fotosafari geht, muss natürlich mit jedem Wetter rechnen. Sobald auch nur ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen, öffnen die Bouquinistes am Ufer der Seine ihre Buden mit antiquarischen Büchern und nachgedruckten Plakaten. Die junge Frau fällt mir wegen ihrer blondierten Haare und aparten Weste auf, dann bleibt sie bei den Plakaten von Beatles und ACDC stehen – ein Bild, das ich mir nicht entgehen lasse.

Dennoch ist auch Regen im Herbst unvermeidlich. So komme ich in den Genuss, nur wenige Tage vor dessen Tod die großartige Ausstellung des Fotografen Elliot Erwitt im Musée Maillol besuchen zu können. Am Tag darauf entdecke ich im Musée d’Orsay ein junges Mädchen, das nicht bemerkt, wie Charles Lavals “Frauen am Meer” ihr beim Betrachten eines Bildes über die Schulter schauen. Am Fenster eines anderen Saales richtet ein Mann seine Rolleiflex über die Dächer der Stadt in Richtung Eiffelturm. Ich denke an Vivian Meyer, die mit einer solchen Kamera unzählige hervorragende Aufnahmen gemacht hat. Sie gehört neben Henri Cartier-Bresson und anderen Größen der humanistischen Fotografie zu meinen Vorbildern.

Am letzten Tag dieser Parisreise schlendere ich den Boulevard Hausman entlang. Im Schaufenster der Galeries Lafayette bietet sich mir ein ungewöhnliches Bild: Eine Frau lässt sich offensichtlich aus Tarot-Karten und Kristallkugel die Zukunft lesen. Durch die Scheibe ist nicht zu hören, worum es geht, aber im Glas spiegeln sich die gegenüberliegenden Fassaden, so dass Innen und Außen mit einander verschmelzen. Die hellen Lichtreflexe in diesem Diorama unterstreichen, was seit inzwischen zehn Jahren das Motto meiner Straßenfotografie ist: ‚La magie est partout! – Der Zauber ist überall!‘.