Über Straßenfotografie

(Eine redaktioinell überarbeitete Version dieses Beitrags ist im Magazin c’t Fotografie, Heft 6/2023, erschienen)

Eine fotografische Reise

Eine steile Treppe führt von der Rue Neuve Sainte-Catherine hinab zum alten Hafen von Marseille. Nach der Enge der Straße mit ihren hupenden Autos und hastenden Menschen öffnet sich der Blick auf die malerische Kulisse den Hafenbeckens, in dem die Boote sanft auf dem Wasser schaukeln – unmöglich, angesichts einer solch pittoresken Kulisse die Kamera in der Tasche zu behalten! Die Stadt im Süden Frankreichs bietet unzählige wunderbare Motive – und jedes von ihnen ist schon tausendfach fotografiert worden.

Der Zauber ist überall

La magie est partout!“, hat jemand mit der Sprühdose auf die Stufen der Treppe geschrieben – „Der Zauber ist überall!“. Und so ist es: Direkt gegenüber am Quai du Port spielen Kinder Verstecken. Zauberhaft ist die Szene nicht nur, weil die Kinder zwischen den riesigen Blumenkübeln wirken als seien sie Akteure einer Märcheninszenierung. Das Spiel an sich berührt mich, denn während Marseillais und Touristen je ihren Interessen nachgehen, tauchen die Kinder für einen kurzen Moment in ihre ganz eigene Welt ab, bevor sie ihren Eltern nacheilen. Ich wähle eine sehr niedrige Perspektive und kann dadurch den Größenunterschied zwischen dem Kind und seiner Umgebung herausarbeiten.

Der Mensch ist mehr als ein Schatten

Nicht weit von dort steht ein Mann am geöffneten Fenster eines tristen Wohnblocks mit zumeist verschlossenen Fensterläden. Mit ein paar Brotkrumen füttert er die Taube, die sich auf der Wäscheleine niedergelassen hat. Es wirkt, als hätten die beiden eine wiederkehrende Verabredung, von der beide profitieren: die eine gegen den Hunger, der andere gegen die Einsamkeit. Durch einen erhöhten Standort bin ich fast auf Augenhöhe mit den beiden, der Mann wirft mir einen freundlichen Blick zu, bevor er mit der Fütterung fortfährt. Ein stilles Einverständnis, wie es immer wieder mal vorkommt. 

In der Straßenfotografie wird in diesen Tagen vielfach darauf verzichtet, Menschen in ihren alltäglichen Tätigkeiten abzulichten. Es gibt großartige Aufnahmen, bei denen Personen durch den geschickten Einsatz von Licht und Schatten als Silhouette erscheinen oder durch gezielte Unschärfe verschwommen dargestellt sind. Aber nicht immer ist eine künstlerische Idee Anlass zur Abstraktion, sondern die Unsicherheit, die seit Einführung der europäischen Datenschutz-Grundverordnung mit der Straßenfotografie verbunden ist.

Aus künstlerischer Perspektive gehört es aber gerade zur Würde eines Menschen, als Subjekt wahrgenommen zu werden. Nicht aus voyeuristischem Interesse, sondern weil es darum gehen muss, das Leben in all seinen Facetten fotografisch festzuhalten, das Drama und den Witz, die Schönheit, die sich im Alltäglichen verbirgt. Immer mit Respekt vor den abgebildeten Personen, nie um jemanden bloßzustellen. Aber mit einer Liebe zum Leben und den Menschen.

Schwarzweiß in einer bunten Welt

An der Promenade du Peyrou in Montpellier besuche ich den Christopher Street Day, ein Fest der schrillen Kostüme als sichtbares Zeichen gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. In allen Farben des Regenbogens präsentieren sich mir großartige Fotomotive. Nur wenige Schritte weiter entdecke ich eine Gruppe Jugendlicher im Schatten der alten Platanen. Am Rande der Veranstaltung signalisieren sie durch Kleidung und Frisur: „Komm mir nicht zu nahe!“. Und zugleich erzählt der zärtliche Kuss des Pärchens etwas über das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Vom Haarschnitt bis zum Stachelarmband ist das ganze Äußere darauf ausgerichtet, sich von der breiten Masse abzuheben. Gleichzeitig beziehen die Aufnäher auf der Weste gegen Ausgrenzung Position.

Gerade diese Widersprüchlichkeit gibt mir zu Denken, weil ich es im Betrachten der Szene mit meinen inneren Bildern zu tun bekomme, wie ein Mensch meiner Meinung nach sein müsse. Ich bin erschrocken, wie sehr gesellschaftliche Konventionen meinen Blick auf andere Menschen trüben können. Trotz der bunten Kulisse ist schnell klar, dass ein Farbfoto hier von der Geschichte ablenken könnte, die ich erzählen möchte. Der Verzicht auf jede Ablenkung durch die Farbe ist für mich ein Stilmittel, die Augen und das Herz zu fokussieren.

Beschränkung auf eine Festbrennweite

Als ich 2014 zu einer dreimonatigen Sabbatzeit nach Frankreich aufbrach, war ich darauf eingestellt, die lavendelfarbenen Landschaften der Provence oder die malerischen Dörfer des Languedoc zu fotografieren. Ich hatte alles eingepackt, was ich dafür brauchte. Auf all meinen Ausflügen schleppte ich meine Nikon D800 und die ‚Holy Trinity‘ schwerer Nikkor-Zoomobjektive durch die Hitze des Südens. Inzwischen habe ich die ganze schwere Ausrüstung verkauft. Denn alles, was in anderen Genres der Fotografie als erstrebenswert erscheint – eine hochauflösende Kamera für die Landschaftsfotografie, schwere, lichtstarke Objektive für das schone Bokeh bei Portraitaufnahmen – hat sich in der Straßenfotografie für mich eher als unnötiger Ballast erwiesen. Mit meiner kleinen PEN-F von Olympus und einem 17-mm-Objektiv (im Kleinbildformat: 35mm) werde ich als Fotograf kaum wahrgenommen und kann dank des flexiblen Displays bequem Aufnahmen aus Hüfthohe machen.

Der Abschied vom Zoomobjektiv ist mir anfangs schwer gefallen, weil ich immer im Kopf hatte, welche Motive mir möglicherweise entgehen könnten. Andererseits bin ich im Laufe der Zeit immer sicherer geworden, welchen Bildwinkel mein Objektiv erfassen kann. Dadurch bin ich in der Lage, sehr schnell zu reagieren, wenn sich eine Szene ergibt. So war es bei den jungen Leuten, die mir in Bordeaux entgegen kamen. Ich stand vor einem Geschäft für Tanzbekleidung und bemerkte, wie die Blicke jungen Damen sich auf das Schaufenster richteten. Ich trat ganz an den Rand des Gehwegs und konnte die Szene im Foto festhalten.

Es muss nicht perfekt sein

Nicht anders erging es mit in Paris, wo ich hinter der Kirche Notre-Dame zwei Jazzmusiker entdeckte. Von der Seite kam ein Priester in Soutane herbeigeeilt. Es musste schnell gehen – auch für mich. Durch das Weitwinkelobjektiv konnte ich die drei Personen gut ins Bild setzen. Mit dem Gegenlicht war der kleine Sensor meiner Kamera etwas überfordert und trotz einer Belichtungszeit von 1/320 Sekunde ist die Bewegungsunschärfe deutlich zu sehen. Aber ist das wichtig? In der Straßenfotografie kommt es mir nicht darauf an, perfekte Bilder zu machen. Ich will Geschichten erzählen. Und wenn der Bildaufbau stimmt, sind andere Faktoren nebensächlich.

Abwarten können

In der Straßenfotografie wird gern zwischen ‚Jägern‘ und ‚Fischern‘ unterschieden; ich habe beides für mich ausprobiert. Als ‚Fischer‘ entdecke ich eine schöne Kulisse und warte so lange, bis die richtigen Darsteller die Bühne betreten. Manchmal kommen die nicht. In der Regel bin ich aber als ‚Jäger‘ unterwegs Dann bewege mich mich langsam und möglichst unauffällig durch die Stadt. Wenn ich außer der Kamera einen Stadtplan von der Tourismusinformation in der Hand trage, verschmelze ich als harmloser Tourist mit der Umgebung und werde kaum wahrgenommen.

In Montpellier entdeckte ich eine junge Frau, die in der sengenden Mittagssonne eine lange Leiter transportierte. Sie war ungeheuer einfallsreich, denn sie hatte die Leiter in eine leere Mülltonne gestellt, den Deckel hochgebunden und ihrem sperrigen Gepäck so zu Rädern verholfen. Was für ein wunderbares Motiv! Nur die Kulisse gefiel mir gar nicht. So ging ich die Rue de Lodeve ein Stück weiter hinauf, bis ich die passende Fassade mit dem schönen Graffito als Hintergrund gefunden hatte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die junge Frau auf dem kleinen Stückchen einen Freund treffen würde. Die beiden plauderten ausgiebig im Schatten eines Hauses, ich briet in der Sonne und wartete. Es ist nicht immer leicht, ein Fischer zu sein. Aber dann wurde ich mit einem Foto belohnt, bei dem Darstellerin und Hintergrund gut zusammen passten.

Was ist der Anspruch?

Während meiner Sabbatzeit in Montpellier hatte ich von Straßenfotografie noch nie gehört. Ich habe einfach meine Fotos gemacht. Diese unvoreingenommene Herangehensweise hat mir dabei geholfen, meine eigene Bildsprache zu entwickeln. Inzwischen weiß ich, das Fotografen wie André Kertész, Henri Cartier-Bresson oder Robert Doisneau viele Jahre zuvor die Idee einer ‚humanistischen Fotografie’ verfolgten, in der es eben darum ging, das Leben der Menschen in ihrer Alltagswelt fotografisch zu dokumentieren. Das ist genau das, was ich tun möchte.

Die Pioniere der Straßenfotografie sehen sich allerdings vielfach der Kritik ausgesetzt, ihre Ästhetik des ‚poetischen Realismus‘ sei nicht gesellschaftlich relevant, wenn sie nicht – wie etwa bei Willy Ronis – sozialdokumentarische Ziele verfolge. Von „poetischer Blindheit“ schreibt Roland Barthes in seinem Essay „La grande famille des hommes“. Sicher kann das Fotografieren von Menschen in Alltagssituationen in Kitsch abgleiten und Klischeevorstellungen verfestigen. Dennoch dokumentiert jedes einzelne Bild für sich ein Stückchen Zeitgeschichte. Und das gesamte Portfolio eines Fotografen bildet die Vielfalt der Themen ab, die Menschen in einer bestimmten historischen Situation bewegt haben. Das Foto des Pärchens, das am Abend die Schmuckstücke im Schaufester eines Pfandhauses betrachtet, ist nicht sozialkritisch. Trotzdem erzählt es etwas über unsere Zeit, in der viele Menschen vermehrt von finanziellen Sorgen umgetrieben werden.

Straßenfotografie als Schule des Sehens

Wir kehren zurück nach Marseille. Über dem Quai des Belges an der Hafenspitze ist ein riesengroßer Spiegel angebracht. Das Bild der Menschen, die darunter entlang gehen, wirft er etwas verformt zurück. Der Spiegel erinnert mich daran, dass mein Kopf voller Zerrbilder vom Menschen ist. Deshalb ist Straßenfotografie für mich eine Schule des Sehens. Und das wichtigste Werkzeug, das ich dabei habe, ist mein Herz. Wenn es mir gelingt, die Menschen einfühlsam zu betrachten, werde ich selbst durch sie verändert. Und vielleicht sogar die Menschen, die meine Bilder betrachten. Vielleicht passen Gedanken des Philosophen Carl Jaspers zu diesen Überlegungen: „Das Bild vom Menschen, das wir für wahr halten, wird selber ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit dem Mitmenschen, über Lebensbestimmung und Wahl der Aufgaben.“